Mindestens einmal in der Woche darf ich mein Enkelkind hüten. Am schönsten ist dieser Moment, wenn Keanu noch mit seinen Kollegen abmacht. Oft spielen sie im geräumigen mit Legobausteine übersäten Kinderzimmer. Dann wechseln sie wieder nach draussen und treffen sich mit anderen auf dem verkehrsfreien Dorfplatz, liebevoll Dorfi genannt und spielen meistens Fussball. Gross und Klein sind dabei. Auch der nahe Wald ist ein idealer Tum-melplatz zum Hütten bauen, Herumrennen, Verstecken, Raufen, alles was Knaben so gerne im freien Spiel machen. Im Wald hat es meistens keine Erwachsenen, da können die Kinder auch Dinge ausprobieren, die sie nicht unbedingt auf dem Dorfi oder in der Siedlung machen würden. Keanu hat grosses Glück. Er wohnt in der Siedlung Halen.
Er kann und darf frei spielen.
Halen - Eine urbane Siedlung mitten im Wald
Die Halen ist ein Meilenstein moderner Siedlungsarchitektur. Gebaut zwischen 1957 und 1960 von der damals neuen Architektengemeinschaft Atelier 5 verbindet sie Elemente der klassischen Moderne mit strukturellen Elementen der Berner Altstadt. Sie ist ein kleines, mitten in einem Wald gelegenes architektonisches Juwel und für rund 220 Menschen ein Zuhause. Die rechtlichen und organisatorischen Strukturen der Siedlung Halen sind so einfach und schlank wie ihre Architektur. Zuständig für die 83 Wohnhäuser sind allein deren Eigentümer. Über alle Gemeinschaftsanlagen befindet die Eigentümergesellschaft. Ihre Beschlüsse werden von der Verwaltung, einem Milizorgan mit fünf bis sieben Mit-gliedern, umgesetzt. Die Eigentümergesellschaft der Siedlung Halen ist ein im Handelsregister eingetragener Verein mit Statuten. Mitglieder sind alle Hauseigentümer. Oberstes Organ des Vereins ist die Eigentümerversammlung, welche jährlich mindestens einmal zusammenkommt und alle wichtigen Entscheide über das Gemeinschaftseigentum (Schwimmbad, Sportplatz, Wald, Wege, Laden, Waschküche, Einstellhalle etc.) trifft.
Meine Tochter ist eine alleinerziehende, berufstätige Mutter und Keanu ein Einzelkind. Sie wohnt in der Siedlung Halen. Keanu ist nie allein. Atelier 5 hat in der Halen das afrikanische Sprichwort “Für die Erziehung eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf” exemplarisch umgesetzt.
Wenn sich Keanu mit anderen Kindern in der Siedlung bewegt, habe ich beim Hüten viel Zeit für mich. Ich treffe mich mit anderen Erwachsenen auf dem Dorfi, kann etwas für mich erledigen oder ich kann einfach beobachten. Ich höre und sehe, wie die Kinder miteinander umgehen. Ich sehe, wie sie spielen, wie Grosse und Kleine miteinander spielen, aufeinander Rücksicht nehmen, wie sie gemeinsam etwas aushecken, wie sie abmachen, was sie nun machen wollen, wie sie die Rollen verteilen, wie sie streiten und sich wieder finden, wie sie einander trösten, wie sie lachen, wie sie Pläne schmieden, wie sie Mutproben veranstalten, wie sie herumklettern, mit Stühlen und Tischen Burgen bauen, mit Kalkstiften ganze Geschichten auf den Platz malen, mit Velos und Trottis Rennen organisieren.
Hier dürfen Kinder spielen.
Die Siedlung ist ein kleines Dorf. Sehr durchmischt mit unterschiedlichster Altersstruktur, mit ganz verschiedenen Kulturen und vielfältigen Lebensweisen.
Im Winter öffnet am Mittwoch das Beizli zu einem gemeinsamen Anlass. Jemand bietet etwas an. Gestern gab es Suppe und Brot. Die Familien treffen und begegnen sich. Als Nicht-Halenbewohner fühlte ich mich sofort willkommen, werde eingeladen mich zu anderen an einen Tisch zu setzen. Bei solchen Anlässen sind die Kinder immer dabei und finden sich sofort wieder zum Spielen: Sie spielen Verstecken im Beizli, tollen herum. Von Spielgruppenkind bis zum 5. Klässler sind alle dabei und werden von den anderen Kindern aufgefordert mitzumachen. Nachher spielen sie Fangis auf dem schon finsteren Dorfplatz. Für einige eine kleine Mutprobe, aber sie überwinden ihre Ängste im Spielen.
Wenn jemand mit seinen Kindern etwas unternimmt, dann sind oft auch die anderen eingeladen mitzuwirken. So entstehen unzählige gruslige Halloweenkürbisse, die einem überall in der Nacht angrinsen. Jemand organisiert einen Tanzworkshop, einen Flohmarkt, den Besuch des Samichlaus, das Wichtelen vor Weihnachten, eine Openair-Disco auf dem Sportplatz, einen Sonntagsbrunch und vieles mehr.
Die Erwachsenen sind da, helfen wenn nötig, mahnen, wenn etwas aus dem Ruder läuft, trösten und pflegen, wenn sich jemand weh tut. Sie bilden den geschützten Raum, den die Kinder auch brauchen und den anderen Eltern die Sicherheit gibt: Es ist sicher jemand da. Die Kinder wachsen in der Halen in einem grossen sozialen Gefüge auf. Sie haben ganz unterschiedliche Ansprechpartner:innen. Die Kindererziehung, wenn ich diesen Begriff noch brauchen darf, ist auf eine ganze Siedlung verteilt. Eltern sind entlastet und sind selber ein wichtiger Teil dieses urbanen, sozialen Dorfes. Das war für mich am Anfang gewöhnungsbedürftig. Ich musste loslassen.
Gelassenheit.
Wenn ich heute nicht weiss, wo Keanu ist, dann frage ich auf dem Dorfi. Jemand weiss es bestimmt, hilft mir beim Suchen und fragt weiter und die fragen wieder jemanden und plötzlich ist Keanu wieder da: “Ich war auf dem Sportplatz und habe ganz vergessen heimkommen. Wir hatten gerade einen coolen Kletterbaum gefunden.”
Mein Appell an Architekten, Bauherren, Städte- und Siedlungsplaner, Baukommissionen und Politiker:innen:
Baut mehr “afrikanische Dörfer”!
Das dies auch in Städten möglich ist, zeigt die Initiative Urbane Dörfer, die hier im Effinger entstanden ist: https://www.urbanedoerfer.ch/ Es lohnt sich, da mal reinzuschauen.